AM48 – Brief an Walter Gropius
New York, Mittwoch, 23. November 1910


23 Nov

Mein

Endlich gestern hab’ ich mir Deine Briefe von der Post holen können – wir hatten Taxi strike und ich hatte keine Möglichkeit, den langen Weg zu machen – vor allem aber dadurch, weil es mir widerstrebt, irgend einen Menschen einzuweihen! – Ich fand ein halb Dutz.[end] Briefe vor. Von Dir und auch von .

Deine Briefe sind Du, so absolut rein und ohne Hem[m]nis strömt Deine Seele am Papier \da/hin[.] –


Es ist, als ob ich Dich dabei sehen würde. – Gestern habe ich auch einige arch.[itektonische] Brochuren gekauft. – Die Häuser in der Umgebung von N. Y. sind famos. – ich wusste, dass er Dir imponiren musste. Er war einer der stärksten Menschen – die ich kannte. Und die Zeit meines näheren Verkehrs mit ihm, – ist mir heute noch eine Freude.

– hier – ist wieder ganz das, was ich wusste. Das herrlichste, vollkommenste Gehirn! – Er liebt mich! – Er ist fast täglich bei uns –


alles, was er sagt – ist anregend – geistreich. Aber habe keine Angst, mein Lieb – „gefährlich“ werden kann mir niemand mehr!!! – Verstehst’ Du.

Meine Beinhautentzündung – war sehr schmerzhaft – aber – sie muss Dich nicht „nachdenklich“ stimmen. – Jeder Mensch – der einen ganzen Tag im Zug herum steht – kann eine Zahnentzündung bekommen. Außerdem – lebe ich jetzt bravest. will mich ganz gesund machen!! –


Ich war noch nie so brav u. folgsam, als jetzt. – Ich gehe jeden Tag um 10 Uhr schlafen – empfange keine Menschen, – weil sie mich langweilen – mache keine Besuche. Nur so kann ich wieder ein fester Kerl werden! – Dabei arbeite ich sehr viel! Ein neues Lied – d. h. der Anfang ist alt, aber alles andre neue, habe ich vollendet, schrieb es mir ab, weil er behauptet, dass meine Sc Pfote niemand lesen könne – u. als ich dann in sein Zimmer kam — kam er gel gerührt auf

mich zu – und sagte – Du – das ist einfach ein wunderbares Lied – . Jetzt arbeite ich an einem großen Gesang. – () Ich fühle mich sehr wohl – habe Anregung in Fülle. Gestern Abend ein herrliches Concert . Eine – zum Vergehen schön. – Leider sehr schlecht instrumentirt – aber [,] der liebt – hat es retouchirt, so dass es farbenprächtig u. reich klang – u. für alle ein neues Erlebnis war.


Ich verkehre meistens mit Künstlern, die ich immer liebe – u. alle andern Leute – bruskire ich nicht[,] außer sie nahen – kniend[.] – Versteh es heiter, wie es geschrieben ist. Ein Maler \/ kommt viel zu uns, der sein halbes Leben unter den Indianern verbracht hat – seine Erzählungen sind fascinirend. Wir wollen das so halten – ich schreibe nur von mir – Du nur von Dir – so wollen wir uns alles erzählen. –

Ich liebe Dich! —

Wolltest Du das hören?

?


Apparat

Überlieferung

, , , , , .

Quellenbeschreibung

3 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Germany | Berlin W. | Nicolsburgerplatz 4 G. IV | Herrn Walter Gropius; PSt.: NEW YORK | GRAND [CENTRAL STA.] | NOV23 | 1230PM | ####; von WG mit einer 6. versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen).

Druck

, S. 436, bei Anm. 32 (partielle Inhaltsangabe) und 35 (Auszug), , S. 1050f., bei Anm. 373 (Auszug in engl. Übersetzung).

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG96 vom 6. bis 8. November 1910 (achte auf Deine Gesundheit […] nicht leichtsinnig mit Deinem Körper sein): Außerdem – lebe ich jetzt bravest. Fränkel will mich ganz gesund machen!! – Ich war noch nie so brav u. folgsam, als jetzt, WG99 vom 10. oder 11. November 1910 (Ich bitte \beschwöre/ Dich, nicht Deine Gesundheit zu vergeßen): Außerdem – lebe ich jetzt bravest. Fränkel will mich ganz gesund machen!! – Ich war noch nie so brav u. folgsam, als jetzt und WG100 vom 10. oder 11. November 1910 (ängstigt mich der Gedanke, Deine Gesundheit könnte den schweren Anforderungen eines neuen Lebens nicht standhalten): Außerdem – lebe ich jetzt bravest. Fränkel will mich ganz gesund machen!! – Ich war noch nie so brav u. folgsam, als jetzt. Beantwortet durch WG110 vom 3. bis 8. Dezember 1910 (Dein Brief vom 23.11. kam an […] Er war lau und war die Antwort auf 6 Briefe von mir): Ich fand ein halb Dutz.[end] Briefe vor.

Datierung

Poststempel: Jahresziffern nicht lesbar.

Schreib- und Absendedatum: „‚23 Nov‘ [1910]“ (, S. 436, Anm. 32 und 35), „23 Nov. 1910“ (, S. 1051, Anm. 373).

Datiert durch AM: 23[.] Nov[ember]. Jahr 1910 aus Briefinhalt und WGs chronologischer Briefnummerierung erschlossen.

Übertragung/Mitarbeit


(Jannik Franz)
(Tim Reichert)


A

halb Dutz.[end] Briefe – Nummer 3), 4) und 6.) bis 9.) auf Absendeliste WG92. Siehe auch WG110 vom 3. bis 8. Dezember 1910: 6 Briefe.

B

Olbrich, österreichischer Architekt.

C

heute noch eine Freude – zu früheren Bekanntschaft mit s. , insbesondere S. 399 (29. November 1899) und S. 408f. (20. Dezember 1899). Demnach komponierte mit Blick auf Olbrich ihr Lied . Auf Basis von Quellen, die sich in , Ms. Coll. 575, Box 134, Folder 1895 befinden, wurde dieses Lied in publiziert.

D

Beinhautentzündung – s. AM44 vom 1. November 1910.

E

„Licht in der Nacht“ – Dehmel – zu den zwei Vertonungen von Gedichten s. AM47 vom 16. und 17. November 1910: ein Lied fertig gemacht. Das unter dem Titel „“ veröffentlichte Lied vertont jedoch ein gleichnamiges Gedicht von , nicht von (, S. 436). Dass Lieder abschrieb (G.[ustav] schrieb es mir ab), ist beim sogenannten „“ und bei „“ bewiesen, allerdings in teils starker Bearbeitung, wenn nicht in Neufassung gegenüber den publizierten Fassungen bzw. wenigen erhaltenen Manuskripten ( und ). Siehe auch Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.

F

großen Gesang. – (Falke) – unter dem Titel „“ 1915 in () veröffentlichte Vertonung von Gedicht „“ ( und ). Ab August 1910 erfolgten umfassende Revisionen, nicht nur von , sondern auch von . Änderungen in seinen handschriftlichen Fassungen und eine zentrale motivische Bezugnahme auf das „ׅ“ in seiner zeigen, dass er sich mit diesem Lied kompositorisch kreativ auseinandergesetzt hatte und bei der Überarbeitung half, wenn er nicht gar Urheber einiger Passagen war. Bis zur Drucklegung erfolgten eine Vielzahl von Änderungen vor allem im Klavierpart ( und ). Siehe auch Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.

G

Schumannsymphonie stand auf dem Programm zweier New Yorker Abonnement-Konzerte am 22. und 25. November 1910 (, S. 285).

H

retouchirt hatte umfassende Änderungen an der Instrumentation vorgenommen, die die Kritiker polarisierten, doch vom Publikum sehr gut aufgenommen wurden (, S. 1055–1058).

I

Groll, ein „feinsinniger Künstler“ (, S. 206), bekannt geworden durch Ölgemälde von Wüstenlandschaften Reservaten indigener Völker Nordamerikas.